Tag#5 (15.08.2012)
Seine „Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst“ in der Hand, traf ich Franz Schuh zu einem für mich sehr interessantem Gespräch über Gmunden, Schnitzler, Literatur, Essayistik, Philosophie, Radioarbeit und Unglück – und was zu diesen Themen dazu gehört. So entführte er mich in eine Denkweise, in der selbst scheinbar einfache Fragen ausführlich beantwortet werden.
Sonnleitner: Zu Beginn möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die Sie wahrscheinlich erwartet haben: Warum Gmunden? Was gefällt Ihnen hier so besonders?
F.S.: Oberösterreich ist grundsätzlich so eine Art klares Land: Die Entscheidungsstrukturen sind eindeutig, durch den Landeshauptmann vorgegeben, die Schönheit der Gegend ist sprichwörtlich, zugleich ist das Land – ich sage nur Innviertel – von selbstständigen und unbeeinflussbaren Individuen bevölkert. In Linz gibt es eine für Österreich unglaubliche, avantgardistische Literatur, die auf Heimrad Bäcker zurückgeht, heute sind Elfriede Czurda und Christian Steinbacher charakteristisch dafür. Das heißt, es ist doch ein Land, das bei aller Eindeutigkeit verschiedene Dynamiken ermöglicht. Durch die voest ist es auch ein proletarisches Land, die Arbeiterschaft hat hier eine entscheidende Rolle. Außerdem gibt es in diesem Land diese eigenartige Seenlandschaft, die als Rückzugsmöglichkeit für alles Übrige besteht.
Als Wiener hatte ich ursprünglich Kärnten zu meinem Wien-kompensierenden Aufenthaltsort gemacht, doch dies ist mir seit einigen Jahren aus politischen Gründen nicht mehr möglich. Also bin ich froh, in Gmunden zu sein und mitarbeiten zu können, weil – das kann man schwer leugnen – das hier doch eine außergewöhnliche Landschaft ist. Es ist leicht provinziell und eine gewisse Gefahr besteht darin, dass sie durch die Zweithaus-Besitzer belebt wird, da entsteht so eine eigenartige Bevölkerungsklasse, die zwar interessiert ist, aber nicht involviert. Dennoch hat das Ganze hier etwas Frisches und Erfrischendes.
Die Salzkammergut Festwochen Gmunden sind schon allein aus geopolitischen Gründen interessant, weil es der Versuch ist, zwischen Wien und Salzburg auch etwas zu organisieren, auch wenn die Ressourcen bei weitem kleiner sind. Sie sind eine Möglichkeit für Menschen, die das Experimentelle lieber haben, also die den Versuch lieber haben als die prächtigen Schaubuden von Wien und Salzburg. – Da sehen Sie, wie umständlich man auf einfache Fragen antworten kann!
Sonnleitner: Sie selbst haben die Lesung vom „Leutnant Gustl“ am Dienstag gemacht. Stimmt es, dass Sie es auch waren, die den Schnitzler-Schwerpunkt angeregt haben?
F.S.: Das ist richtig. Nach den Sachen, die ich gehört habe, und die ich vorher schon kannte, bin ich noch mehr überzeugt davon. Schnitzler ist einer dieser Autoren, die vor der endgültigen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Katastrophe gestorben sind, nämlich 1931. Karl Kraus etwa ist 1936 gestorben, also auch vorher. Schnitzler war, wie im Übrigen auch Kraus und Sigmund Freud einer, der geahnt hat, da kommt irgendetwas. Und das, was da kommen wird, das wird nicht das Humane sein, sondern die Idylle einer „Welt von gestern“ sprengen. Ich habe hier eine Lesung von Anton Kuhs öffentlicher Rede gegen Karl Kraus, damals im Konzerthaus, veranstaltet und auffällig war, wie sehr diese Rede antisemitische Appelle enthielt. Und an diesem Detail, wenn selbst Juden – Kuh war Jude – antisemitische Kategorien ins Feld führen, kann man sich klar machen, dass das eine ungeheure Macht hatte. Und es war Schnitzler, der in seinen Romanen und auch in seinen Erzählungen ein ungeheures Gespür hatte für das, was jüdischen Menschen eventuell drohen wird. Er ist auch, obwohl er als Dramatiker eine so durchschlagende Berühmtheit hat, einer der größten Erzähler Österreichs, dieser österreichischen Tradition. Stilistisch zeichnet er sich dadurch aus, dass seine Erzählungen nicht die Aufmerksamkeit auf die Sprache lenken, sondern dass die Sprache in diesen Erzählungen quasi zu Gunsten des erzählten Inhalts verschwindet. Das heißt, er ist in seltsamer Weise gar kein manieristischer Erzähler, wohingegen es auf der Bühne sehr wohl etwas gibt, dass man „Schnitzlerismus“ nannte, so ein Tonfall wie in „Na, gnädige Frau“.
So gehört Schnitzler zu den Autoren, die die österreichische Mentalität, das „Design“, bewahren. Wenn es in „Professor Bernhardi“ z.B. heißt: „Ich kann mir ja vorstellen“, sagt Bernhardi, „dass jemand eine Gemeinheit tut, um ein Ziel zu erreichen, aber Gemeinheit als reiner Selbstzweck, das kann ich mir nicht vorstellen.“ So ist das doch ein Seufzer, der durch die österreichischen Jahrhunderte geht. Weil er eben schon auch damit zu tun hat, dass die Menschen hier es schwerer haben, Freiheit in diesem politischen Sinn zu erlangen, d.h. nicht dem folgen zu müssen, was ihnen angeschafft ist. Und das erzeugt natürlich alle möglichen Denunziationsformen, aber auch eine Lust an der Gemeinheit, mit der man den anderen schädigt. Und dann kommt dazu, dass es eine Negativpropaganda gegen Schnitzler gibt, in dem Sinn, dass er überholt ist, und das halte ich für ganz falsch. Denn dass etwas historisch ist – und Schnitzler ist historisch – besagt nichts darüber, ob es uns heute noch etwas sagt oder nicht.
Das zusätzlich Interessante an Schnitzler ist, dass er erkannte, dass Menschen weniger gern die Wahrheit sagen, als dass sie lieber Lust empfinden, sogar aneinander Lust empfinden. Das erzeugt komplizierte, unauflösliche Konflikte, z.B. in der „Liebelei“ von Schnitzler, wo die sich geliebt Fühlende am Ende die Frage stellt: „Was bin ich denn für dich gewesen?“ Und das ist eine Grundfrage im desillusionierenden Prozess des Zusammenseins von Mann und Frau.
Sonnleitner: Ich möchte gleich auf ein Zitat aus Ihrem Buch zurückkommen, das ich spannend gefunden habe, nämlich „Literatur ist immer ein Isolationsmedium; sie ist ein guter Grund, sich zurückzuziehen.“ Glauben Sie, dass sich zu wenig Zeit genommen wird, sich zurückzuziehen? Vielleicht auch, dass Literatur an sich zu wenig ernst genommen wird?
F.S.: Also ich bin keiner, der die pädagogische Schlagseite hat, wo man sagen muss: „Die Leute lesen zu wenig oder so etwas Ähnliches.“ Ich bin der Meinung, zur Freiheit gehört auch das Recht zu verdummen, also auch, jeder Lektüre aus dem Weg zu gehen. Ich denke aber, wie ich schon angedeutet habe, auch umgekehrt, dass, ob die Leute es lesen oder nicht, bei der gelungenen Literatur gilt, dass sie Dinge sagt, die die Menschen leben. In der Literatur steckt eine große Menge an gelebten Bedeutungen. Und die Leute, die diese Bedeutungen leben, müssen nicht unbedingt auch lesen, was sie leben. Eine Literatur, die nichts mehr damit zu tun hätte, was den Menschen etwas bedeutet, das wäre eine, die sich irgendwie selber aufgibt. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten es gibt, aber manche nutzen solche Möglichkeiten, dass Literatur sich selber aufgibt; sie zwingen den literarischen Diskurs dazu, bedeutungslos zu werden.
Sonnleitner: Das heißt, Sie glauben, es gibt Literatur, die sich selber aufgibt? Und welche Art von Literatur wäre das?
F.S.: Naja, ich würde sagen, die ersten 15 Bücher auf der Spiegel-Bestsellerliste. Natürlich ist das eine spöttische und spitzfindige Bemerkung, aber im Grunde stehe ich dazu.
Sonnleitner: Beim philosophischen Fest am Montag habe ich festgestellt, dass im Publikum wenig Jugendliche waren. Wenn Philosophie etwas ist, dass man offensichtlich erst später im Leben ernst nimmt, wie haben Sie sich dann dazu entschlossen, philosophisch tätig zu sein?
F.S.: Ich glaube in meinem Fall war es ein klassischer Vorgang: Ich war sehr einsam als 12- bis 14-Jähriger gewesen, und diese Einsamkeit in der Kleinfamilie bedeutet fast immer, dass man eine Fantasiewelt ausbildet und dass man Gedanken hegt, die man entweder schon philosophisch nennen kann, oder an die späteres Philosophieren anknüpfen kann. Also diese Einsamkeit ist, glaube ich, eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass man die Nachdenklichkeit zu einem Existenzmittelpunkt macht. Nach-Denklichkeit kommt immer erst nachher, und der Existenzmittelpunkt wäre immer der der Gegenwart. Und das ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum die jungen Leute eher weniger zum Philosophicum kommen, weil die im besten Fall es nicht notwendig haben, nachdenklich zu sein. Sie sind mitten in Ereignissen und Faszinationen drinnen und sind also befangen oder gefangen im Gegenwärtigen. Das lässt sich nicht leicht lustvoll in Nachdenklichkeit überführen. Während ich umgekehrt sagen muss, dass ich beim Vortrag von Hr. Prof. Zeilinger über Einstein sehr viele junge Leute gesehen habe.
Sonnleitner: Und wie erklären Sie sich das?
F.S.: Weil die Physik und die Naturwissenschaft überhaupt keine Gefahren der Weinerlichkeit enthält, die man als junger Mensch in philosophischen Diskursen wahrscheinlich zu erkennen wähnt.
Sonnleitner: Sie sind ja als Essayist bekannt geworden. Sind die Anregungen für Ihre Essays spontane Reaktionen auf das politische, soziale, kulturelle Umfeld oder sind das Dinge, mit denen Sie sich schon länger beschäftigt haben?
F.S.: Ich denke das ist so, dass Perspektiven, die man länger schon in sich aufgebaut hat, dann mit zufälligen, sogenannten kontingenten, Ereignissen zusammentreffen. Man sieht, ob sich diese aufgebauten Perspektiven an kontingenten Ereignissen bewahren lassen. Und manche Dinge sind ziemlich aufreizend, sodass es fast unmöglich ist, sie nicht essayistisch zu betrachten.
Sonnleitner: Wir haben in unserer Schule ein Schulradio und da habe ich schnell festgestellt, dass geschriebene Texte nicht 1:1 ins Radio übertragbar sind, weil die Sätze meistens viel zu lang und/oder zu verschachtelt sind. Mich würde daher interessieren, ob sie das Geschriebene bevorzugen oder ob Sie Radioarbeit als interessanter empfinden.
F.S.: Also das ist ein sehr heikler Punkt. Und zwar deswegen, weil es in der Tat so eine Art Radioprosa gibt, die ich oft finde, wenn ich in die Studios komme. Dort sehe ich dann auf Mündlichkeit hingeschriebene Sätze, die sich dadurch auszeichnen, dass sie weder mündlich in Ordnung sind, noch als Schriftsprache gelten dürfen. Gerade das Radio erzeugt ein Sprach-Bankert, der weder mündlich taugt, noch der Schriftsprache Genüge tut. Und ich finde, aus diesem Dilemma muss ein guter Radiomacher raus. Es gibt z.B. Radioleute, die reden wie der akustisch gewordene Spiegel, also der „Spiegel-Stil“: etwas mühsame Ironie, die über jeden Gegenstand gleich gegossen wird. Das ist eigentlich keine Sprache mehr, sondern wie das, was im Spiegel steht, ein Jargon. Und das ist sehr schade weil das Radio auf der Grundlage der akustischen Ästhetik doch andere Sprechformen ermöglicht.
Sonnleitner: Das heißt es fehlt Ihnen die spontane Sprechweise?
F.S.: Ich bin sowieso ein Anhänger der spontanen Sprechweise, auch weil sie in Österreich besonders unbeliebt ist. Jeder, der in Österreich frei sprechen kann, wird als nicht genug tiefgründig beachtet.
Sonnleitner: Wir waren ja schon beim Philosophischen Fest unter dem Titel „Ziemlich trist. Aspekte des Unglücks“. Warum glauben Sie, dass sich leichter über das Unglück als über das Glück sprechen lässt?
F.S.: Das kann man einfach beantworten: Weil nämlich die Vorstellung der Menschen, was Glück ist, naturgemäß sehr unterschiedlich ist. Um es ganz banal zu sagen: Die einen fahren ins Gebirge, die andern an die Seen. Auf dieser banalen Ebene liegen unendliche Differenzen in Bezug auf das, was man für Glück hält. Wohingegen Unglücke ziemlich eindeutig alle gleichermaßen betreffen. Niemand, der auf einem untergehenden Schiff steht, würde sagen: „Das ist mir angenehm“ und der andere sagt: „Das ist mir unangenehm“ – das ist undenkbar.
Die Empfindung von Unglücken ist also ziemlich eindeutig. Das ist eine merkwürdige Struktur, dass die Menschen sich viel besser darüber einigen können, was Unglück ist als was ein Glück ist und das beginnt schon auf der untersten Ebene. Zu hungern wird nur in Kurhäusern und in Kosmetikstudios für Glück gehalten, generell würde jeder sagen, dass der Hunger ein Unglück und eine Qual ist.
Das macht die Glücksfrage unter Menschen umso interessanter. Ein kollektives Bemühen ums Glück wird wahrscheinlich nur so funktionieren, dass man Rahmenbedingungen schafft, die es ermöglichen, dass jeder sein von ihm entschiedenes Glück findet. Aber es wird nichts mit dem Glück, wenn vorgeschrieben wird, was inhaltlich Glück zu sein hat. Das wird zum Glück nicht funktionieren, weil Menschen anders gestrickt sind.
// Hanna Sonnleitner